Ich weiss, ich war schon immer anders. Ich sah, verstand und betrachtete vieles aus einem anderen Blickwinkel. Das tue ich auch heute noch. Aber in letzter Zeit begegnen mir Situationen, die mich stocken lassen. Ich beobachte sie wie eine seltene Tierart, ohne genau zu wissen, was ich davon halten soll. Ich werde stumm, nachdenklich und irgendwie traurig. Sie hebeln Regeln aus, drehen die Welt auf den Kopf und lassen Gehirn-Luft-Momente zurück. Zumindest bei mir.
Unsere Welt steht Kopf, für manche mehr und manche weniger. Und ich glaube, dies ist der Punkt. «Unsere» Welt ist gar nicht mehr unsere Welt. Die Welt so vieler Menschen dreht sich im eigentlichen Sinne nur um sich selbst. Ein «unser» existiert in diesem Sprachgebrauch gar nicht mehr. Der Fokus ist so klein geworden, dass man ausser sich selbst und die Engsten, nicht mehr viel Energie hat für das Drumherum. Das Drumherum, die Gemeinschaft, die Bevölkerung, wir Menschen. So oft dachte und denke ich im Alltag; «Wie kann es sein, dass gerade eine ältere Dame rücksichtslos im Tram zur Seite gestossen wird, und die ausführende Person hat es nicht gemerkt?»
Szenenwechsel. Heute war wieder mal Waschtag, die, die mich lange kennen wissen; eine psychische Herausforderung für mich. Als ich in der Waschküche stand und auf das zu Ende Schwingen der Maschine wartete, machte sich ein Nachbar daran den Tumbler auszuräumen. Nachdem er die letzte Socke aus der Trommel gefischt hatte, kehrte er um und lief in Richtung Treppenabsatz. Da sprach ich ihn an und fragte ihn ganz unverhohlen, ob es einen Grund gäbe, dass er die Maschine nicht sauber machen würde. Leicht irritiert sah er mich an und meinte dann, dass er eigentlich immer vor der Benützung das Gerät säubere. Als ich dann meinte, dass dies gerade eben daran liege, dass niemand seinen eigenen Dreck weg mache, warf er ein, dass dies ja normalerweise auch seine Freundin mache. Ah, ja na dann ist alles klar, natürlich.
Da war er wieder. Der Moment der mich stocken liess. Wichtige Zwischeninfo; scheinbar habe ich auf meinem Weg der sogenannten Entwicklung, das Urteilen komplett verloren. Dies ist ziemlich superheldenmässig cool, aber auch echt verwirrend. Denn ich versuche immer einfach so, ganz ohne zu verurteilen die Perspektive meines Gegenübers zu verstehen oder für mich zu übersetzen.
So stehe ich nun da, höre mir den «Schwachsinn» an und frage mich; «Bin ich jetzt gaga oder ist mein Gegenüber einfach neben der Spur?».
Es ist absolut nichts daran auszusetzen, dass man die Maschine jedes Mal vor Gebrauch so reinigt, wie man das gerne hätte. Natürlich. Meine Logik kriegte währenddessen jedoch mehrere Heulkrämpfe und kackt ab. Denn die schreit nach; «Ich mach meinen eigenen Dreck weg und hinterlasse alles so sauber… wie ich es antreffen hätte sollen?» Uh und ja, ich gebe zu, meine Logik funktioniert nur, wenn alle danach handeln. Und tun sie das? In diesem Beispiel nicht, nein. Ist dann seine Vorgehensweise nicht die bessere? Es macht definitiv den Eindruck und irgendwie aber auch keinen Unterschied. Oder?
Wir alle leben nach unseren eigenen Regeln, nach unseren gelernten Mustern. Unsere Herkunft prägt uns genau so wie unser Alltag. Unsere Wertevorstellungen, unsere Vorstellungen wie etwas zu sein hat oder es richtig wäre. Gerade in einer Stadt, in der Nationen, Kulturen und Herkünfte aufeinanderprallen, herrscht ein kunterbunter Mix an «Richtigem». Solche Dinge wie die Reinigung eines Tumblers verändert zum Glück nicht ein ganzes Leben oder zerstört Existenzen. Jedoch glaube ich dieses Bubbel- Denken sollte auf keinen Fall unterschätz werden. Wenn wir nicht vermögen über unseren Tellerrand zu blicken, dann werden sich die Missverständnisse häufen. Das Ding ist, ich habe Mühe diese Momente als Missverständnisse wahr zu nehmen. Ich gehöre zu den Menschen, die meinen, was sie sagen und sagen was sie meinen. Nein, natürlich habe auch ich nicht immer den Mut, aber ich finde immer öfters einen Weg, dies in einem gesellschaftlich anerkannten Ton doch zu tun. Aber ja, ich finde irgendwie macht es eben doch einen Unterschied. Denn in meiner Logik übernehme ich Verantwortung. Ich beseitige meine Hinterlassenschaften und möchte, dass der Nächste alles sauber vorfindet. Es wäre doch unangenehm, wenn dieser meinen Dreck wegmachen müsste. Dies, aus meiner Sicht, ein soziales Verhalten in einer Gemeinschaft. Oder bin ich nun einfach ein alter Bünzli geworden?
Da stosse ich nun an den Rand meine Werte-Bubble. Zum einen natürlich durch meinen angeborenen und ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und zum anderen, durch meine Erziehung.
Passend zum Thema stiess ich die Tage auf einen Artikel im Magazin «Beobachter», der hiess «Bitte bloss nichts Fixes!». Darin wurde mit Begrifflichkeiten jongliert wie «Ghosting», «Situationships» und das Lieblingswort der heutigen Zeit «Unverbindlichkeit». Für mich persönlich das Unwort des Jahrzehnts. Während dem Lesen stieg der Puls und die Finger juckten, wollte ich doch sogleich meinen Umut über diesen Artikel, bzw. den Inhalt kundtun. Die Unverbindlichkeit sei doch auch eine Art Freiheit. Jederzeit nur nach meinem Empfinden zu handeln, die Unverbindlichkeit jederzeit ab- oder zuzusagen, wie es mir gerade in meine Freiheit passt. Ja, es triggert mich und ja, ich empfinde Unverbindlichkeit als respektlos und unanständig. Es mag großartig sein nicht Monate im Voraus verplant zu sein, aber es ist auch unmöglich geworden etwas zu organisieren oder gemeinsam zu planen. Ja, es gab schon immer spontanere und weniger spontane Menschen. Jetzt kommt aber das grosse Aber, denn Spontanität und Unverbindlichkeit sind noch mal zwei verschiedene Themen. Ich kann doch auch anständig und klar kommunizieren, ohne bis Ende des Jahres verplant zu sein. Wenn ich zu einem Geburtstag eingeladen werde und ich zusage, dann gehe ich da auch hin. Ja, auch wenn noch zehn weitere Angebote für diesen Abend hereinschneien. Wieso? Weil das Geburtstagskind mich auserwählt hat, an seinem speziellen Tag dabei zu sein. Weil ich zugesagt habe und meine Person in die Planung eingerechnet wurde. Weil der Gastgeber sich auf das Fest freut, und zwar mit einer geplanten Anzahl Gäste. Weil es respektlos ist, eine Einladung, obwohl man zugesagt hatte, einfach platzen zu lassen, weil halt gerade was Besseres dazwischengekommen ist.
Ihr findet das Ganze etwas übertrieben? Ich nicht und gerne gebe ich Euch dazu Praxisbeispiele. Eine Freundin hat mit ihrem Freundeskreis eine Silvester-Réunion geplant, total 18 Leute in einem Restaurant. Alles war reserviert und die Gastgeberin freute sich wie ein kleines Kind auf den Tag. Da sie wusste, dass ich kein Silvesterfan bin und noch keine Pläne hatte, lud sie mich ein. Sie erzählte von den eingeladenen Leuten und meinte, da würde ich richtig gut reinpassen. Die traurige Realität? Wir sassen zu viert am Silvesterabend in diesem Restaurant. Sie, ihre Kinder und ich. Der Rest hatte mit den wildesten Ausreden abgesagt, dies auch noch am Silvesterabend selbst. Wir reden hier nicht von krankheitsbedingten Absagen oder ähnlichem. Hier geht es um Aussagen wie; «Wir haben kein Geld fürs Essen.», «Wir wurden noch an einen anderen Ort eingeladen und gehen jetzt lieber dahin.» bis zu «Wir bleiben lieber zu Hause, passt für uns gerade besser.».
Klar ich könnte jetzt sagen, «not my monkey – not my circus», aber mir tat meine Freundin einfach nur leid. Alles hatte sie organisiert, seit Tagen fast geplatzt vor Vorfreude und nun? Und dass soll jetzt ok sein? Gehen so Freunde miteinander um?
Der Artikel im Beobachter behauptet, ja! Während ich mit Brechreiz kämpfe und meine Gedanken um die Aussage «Unverbindlichkeit bedeutet auch Freiheit» kreisen, wird mir klar.
Wir sind am Arsch!
Das soll das neue Miteinander sein? Das soll einer Gesellschaft, die mit weit grösseren Problemen zu kämpfen hat, Freiheit bescheren? Nennen wir jetzt respektloses Verhalten Freiheit? Freiheit für wen? Und in welchen Situationen sind wir bereit diese beiden Worte im gleichen Zusammenhang zu nennen? Finden wir es auch noch toll, wenn der Trauzeuge einen Tag vor der Hochzeit absagt, da er lieber surfen geht? Finden wir das unverbindliche Verhalten des Vaters unseres Kindes auch dann noch völlig in Ordnung, wenn er seine Wochenenden mit dem Kleinen jeweils spontan absagt oder verschiebt? Wie sieht es aus mit den Lohnzahlungen? Wenn der Chef halt auch unverbindlich und spontan entscheidet, diesen Monat gibt es kein Geld? Unser Fitnesscoach spontan das Training absagt, weil er heute Morgen lieber in den See springen wollte?
Die Unverbindlichkeit bedeutet nur so lange Freiheit, bis ich Opfer der Unverbindlichkeit werde. Und dann ist es eben vielleicht auch nicht mehr so angenehm oder wie fändest es Du, deinen Geburtstag ganz allein zu feiern, denn die Freunde hatten spontan noch attraktivere Angebote für diesen Abend? Eben.
Daher bitte liebe Freunde des Mutes, versetzt Euch bitte einfach mal in Euren Gegenüber. Überlegt euch mal, wie würdet ihr Euch in dieser Situation fühlen? Und wenn ihr keinen Bock darauf habt, dann habt die Eier in der Hose und kommuniziert klar und deutlich und vor allem rechtzeitig. Dazwischenkommen kann immer was.
Verantwortung übernehmen bedeutet aus meiner Sicht Freiheit. Verantwortung für meine Worte und meine Taten.
Ja, Verantwortung übernehmen bedeutet auch Mut zu haben. Mut mit der Reaktion meines Gegenübers klarzukommen. Mut meinen Verantwortungsbereich auch zu sehen und dementsprechend zu handeln. Nach meinen Werten und Moralvorstellungen.
Lasst uns den Mut und die Freiheit im Miteinander wieder finden und nicht in der Unverbindlichkeit jedem auf die Füsse treten zu dürfen, sobald es mir besser in den Kram passt.
Klare Worte!
Frage: Was beutet Freundschaft?
Wir sollten klar zwischen „Die kenne ich. Wir haben schon eine Nacht durchgetanzt.“ und „Mit dieser Person bin ich gerne zusammen. Da fühle ich mich „Zuhause“ unterscheiden.
Denn Freunde legen dieses Verhalten, das du beschrieben hast,nicht an den Tag.